Sonntag, 23. Januar 2011

Müde macht den Menschen...

Ein Vierteljahrhundert schwankte der russische Schriftsteller Leo Tolstoi (1828-1910) zwischen seiner strengen Lehre und seinem konkreten Leben hin und her. Literarischen Ausdruck fand diese innere Auseinandersetzung in seiner unvollendet gebliebenen dramatischen Selbstbiographie, die später unter dem Titel "Und das Licht scheint in der Finsternis" veröffentlicht wurde, obwohl sie bereits zwanzig Jahre vor seinem Tod geschrieben wurde. Den fehlenden letzten Akt hat Tolstoi auch später nicht mehr geschrieben; aber er hat ihn gelebt. Den Widerspruch zwischen Lehre und Leben nicht mehr aushaltend, floh er schließlich nach einigen heftigen Auseinandersetzungen bei Nacht und Nebel aus Besitz und Familie, um als 82jähriger in der Einsamkeit streng und nach den aufgestellten Grundsätzen zu leben. Doch da ereilte ihn im Bahnhof von Astapowo der Tod. Diesen letzten Akt hat Stefan Zweig mit historischer Treue in Szene gesetzt. Zu Beginn der zweiten Szene sagt der Sekretär zu Tolstoi: "Sie sollten sich heute früh niederlegen, Leo Nikolajewitsch, Sie müssen müde sein nach dem langen Ritt und den Aufregungen." Doch Tolstoi erwidert ihm: "Nein, gar nicht müde bin ich. Müde macht den Menschen nur eines: Schwanken und Unsichersein. Jede Tat befreit, selbst die schlechte ist besser als Nichttun" (142). Als Tolstoi im Bahnhof von Astapowo gestorben war, erklärt sein Hausarzt und Freund dem Bahnhofsvorsteher: "Dieser Tod erst erfüllt und heiligt sein Leben (...) Beklagen Sie ihn nicht, Sie lieber, guter Mann, ein mattes und niederes Schicksal wäre seiner Größe nicht gemäß gewesen. Hätte er nicht an uns Menschen gelitten, nie wäre Leo Tolstoi geworden, der er heute der Menschheit ist."
Vgl. Stefan Zweig, Flucht zu Gott, in: Sternstunden der Menschheit, Fischer Taschenbuch Verlag, Nr. 595, Frankfurt a. M. 1979, S. 130-156; dazu: Leo N. Tolstoi, Dramen, rowohlts klassiker, Nr. 203/204, S. 115-177.

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